Foto: Martin Lengemann
Das  Weltreich der Sehnsucht wird an einer Theke in Südengland verteidigt, in einem Dorf namens Claygate. Draußen werben Butzenglasscheiben für eine Brauerei, die seit fast 40 Jahren pleite ist. Drinnen sitzen zwei Männer auf abgewetzten Barstühlen und philosophieren über Grenzschutz. „Wir brauchen keine Mauer, wir haben einen Kanal“, sagt Paul „The Cab“, Taxifahrer, und Chris „The Bike“, Motorradmechaniker und schon ein paar Biere weiter als sein Kumpel, schreit in den Raum:
„Genau! Dafür ist der nämlich da! Damit keiner rüberkommt!“
An der holzgetäfelten Wand hinter den beiden hängen Zeichnungen von Rennpferden, die lange tot sind. Der fein gemusterte Teppichboden ist abgerieben auf den immer gleichen Wegen von der Tür zur Bar. Die Lüftungsanlagen an der Wand, die selten laufen, sind gelbstichig von der Zeit, als man hier noch rauchen durfte.
Vor einigen Jahren wurde das „Winning Horse“ zum schlechtesten Pub in der Gegend gewählt. Hat sie nicht gestört, erzählt Chris. Die Gäste im „Winner“, wie alle ihren Pub hier nennen, bleiben ohnehin lieber unter sich. Und für England wäre das auch das Beste. Deshalb, davon sind Paul und Chris an diesem Nachmittag überzeugt, werden bald großartige Zeiten für ganz Großbritannien anbrechen. Spätestens 2019, denn dann gehört das Land wieder ihnen – und nicht „Mister Juncker“ und „Frau Merkel“, wie Chris sie nennt. Davor aber erst noch ein Bier, Bitter oder Ale, „Proper Job“, „Tribute“ oder „Courage“.
Ein wenig mehr als ein halbes Jahr ist es her, dass Großbritannien offiziell seinen Austritt aus der Europäischen Union erklärt hat. „Brexit heißt Brexit“, versprach Theresa May den „Leave“-Wählern damals – und dass er ein Erfolg werden würde. Viel passiert ist seitdem nicht.
Extremgegenwart
Die Verhandlungen mit den Europäern stecken fest. Die jüngsten Brüsseler Spitzengespräche endeten ohne Ergebnis, aber EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker will nicht von einem Scheitern sprechen. Theresa May beharrt auf ihrer Zuversicht. Der irische Regierungschef lässt wissen, dass ein Deal in letzter Minute an ihrem nordirischen Koalitionspartner scheiterte.
Dazu kommt: Die angeschlagene Regierungschefin kann sich wegen unzähliger Verfehlungen ihrer Minister kaum noch im Amt halten. Das Land hängt seit März in der Luft, gefangen in einer Art Extremgegenwart, gleichermaßen losgelöst von Vergangenheit und Zukunft. Nicht draußen, aber auch nicht mehr richtig drin. Im „Winning Horse“ sitzen die, die dafür verantwortlich sind.
Hier, sagen sie einem Deutschen trotzig und etwas lauter als nötig, hätten fast alle für den Brexit gestimmt. Sagen es und grinsen dabei, als hätten sie ihm stellvertretend für alle „ungewählten EU-Offiziellen“ eins ausgewischt. Im „Winner“ sitzen, mehr als 200 Tage nach Beginn der Austrittsverhandlungen, die Gewinner des Referendums und warten auf die goldene Zukunft. Immer ab zwölf Uhr mittags, denn ab dann ist geöffnet, kann man fragen, warum sie hier unbedingt rauswollten. Und hoffen, dass man eine Antwort findet.
Man solle doch später noch mal vorbeischauen, sagt Steve, kurz nachdem er den Pub aufgesperrt und den Tisch mit dem Aschenbecher vor die Tür gestellt hat. Später sei mehr los. Steve ist 61, trägt Dreiviertelhosen und einen ausgewaschenen Kapuzenpulli, dazu eine Baseballcap, auf der „Monster“ steht. Neben ihm streckt sich Tango, sein Rottweiler, nach einer Tüte Käsechips, die auf der Bar liegt. Er möge deutsche Hunde, sagt Steve.
Früher, vor dem „Publife“, arbeitete Steve beim Grünflächenamt der Gemeinde, schnitt Bäume zurecht, was man so macht. Davor war er Motocross-Fahrer. Nicht richtig professionell, erzählt er, ganz okay, was man als junger Mann so macht. Seit 1997 steht er jeden Tag im „Winner“. Seine Familie betreibt den Pub seit mehr als 80 Jahren, vor ihm sein Vater und vor dem sein Großvater. Der „Winner“, sagt Steve, sei ein ganz normaler Pub, einer für die Leute, die hier leben. Probleme gebe es hier eigentlich nie. Trotzdem hat er einen Baseballschläger hinter der Bar stehen, falls er mal zeigen muss, wer hier das Sagen hat.
Jetzt, am Nachmittag, braucht er ihn sicher nicht. Nur ab und zu kommen Männer in schmutziger Arbeitskleidung rein für ein paar Minuten Pause, auf ein Bier, auf zwei. Wenige Sätze, ein bis zwei Witze, dann wieder nur Sitzen und Trinken. Steve lehnt hinter der Bar und schaut auf den Fernseher, „The Real Deal“ läuft. Vor laufender Kamera verkaufen Menschen ihre Antiquitäten und Erbstücke an den Meistbietenden, ein paar Hundert Pfund für die Erinnerung an Zeiten, in denen es besser lief.
Verlierer
Früher, erzählt Steve, gab es im „Winner“ noch Essen, Fish and Chips, Bangers and Mash, Pubfood, das seine Mutter in der Küche hinter der Bar zubereitete. Heute ist das lange her. Vor einigen Jahren eröffnete ein paar Straßen weiter ein Gemeindezentrum, und die Alten, die früher hier zu Mittag aßen, kamen nicht mehr.
Früher, erzählt Steve, habe er hier Fußball gezeigt. Leicester gegen Manchester United, Manchester City gegen Arsenal. Heute sei Sky zu teuer geworden. Außerdem blieben die meisten Leute zum Fußballschauen sowieso lieber zu Hause. „Lief hier mal gut, aber das hat sich verändert“, sagt Steve, und man ist sich nicht sicher, was er meint.
Eigentlich hat sich alles verändert – alles um seinen Pub herum. Die anderen Pubs in und um Claygate hat, einen nach dem anderen, irgendwann die Gegenwart eingeholt. Der „Foley“, ein paar Straßen weiter, früher mit eigenem Boxklub, schenkt heute Craftbeer aus, hat einen Biergarten mit Kunstrasen und verkauft Burger auf Schiefertafeln.
Im „Bear“, in dem es früher aussah wie im „Winner“, servieren sie seit Kurzem überbackenen Camembert und Miniburger mit Pulled Pork. Im „Swan“ gibt es in jüngster Zeit einen Restaurantbereich. Auf Tischen mit kleinen Deckchen stehen dort Vasen mit Ziergranulat. „Plastikpubs“ nennen sie so etwas im „Winner“ – und finden es ekelhaft. Hineingehen würde keiner von ihnen, und wenn, dann würden sie es nicht zugeben.
Der „Winner“, sagen die anderen in Claygate, ist ein Drecksloch. Hier säßen „gewöhnliche Leute“. Leute, die mit breiterem Akzent sprechen als der Rest, die Jogginghosen tragen und verwaschene Tattoos mit den Namen verflossener Lieben und den Geburtsdaten von Kindern. Leute, die ihr Geld in Berufen verdienen, in denen man sich die Hände schmutzig macht: Mechaniker, Gärtner, Dachdecker. In Claygate, wo eine direkte Zugverbindung nach London selbst kleine Reihenhäuser mehr als eine halbe Million Pfund kosten lässt, sind „gewöhnliche Leute“ die Verlierer. Und das wissen sie auch.
Früher, Anfang des 20. Jahrhunderts, brannten sie hier Ziegel. 1916 elektrifizierten sie die Bahnstrecke bis London-Waterloo, und Menschen, die in der Stadt arbeiteten, begannen, hier Häuser zu kaufen – hier, wo nichts aussieht wie London und alles, als könnte jeden Moment Inspector Barnaby um die Ecke kommen. Und weil sich die gewöhnlichen Leute dieses pittoreske Britannien irgendwann nicht mehr leisten konnten, wurden dort, wo früher, wenige Meter hinter dem „Winner“, noch eine Schweinefarm stand, Sozialwohnungen gebaut.
Fünfter von Sechs
Alan „The Sparks“, Elektriker und Stammgast, kommt durch die Hintertür. „Lampen sind fertig“, sagt er. „Hat der Hund gestern gewonnen?“ Steve lacht trocken und wischt feucht über die saubere Bar.
„Er wurde nicht Zweiter“, antwortet er.
„Dritter?“
„Nein.“
„Vierter?“
„Nein.“
„Fünfter?“
Steve brummt.
„Von sechs“, sagt er dann.
„Aber er war doch Favorit!?“
„Ja, war.“
Der Hund, der an diesem Wochenende verloren hat, heißt Starring Storm und füllt fast eine ganze Wand im Barraum des Pubs. Ein schlanker Greyhound mit blauem Fell und weißen Hinterpfoten giert aus gerahmten Fotos. Daneben hängen Rosetten, so groß wie Kuchenteller. Auf dem Regal hinter der Bar stehen Trophäen.
„Normalität“
Starring Storm gehört einigen Stammgästen im „Winner“, gemeinsam haben sie ihn vor ein paar Jahren gekauft. Als Welpen aus Irland geholt, weil es dort die besten Züchter gibt. Gemeinsam zahlen sie für Hundetrainer und Futter, jedes Wochenende lassen sie ihn auf Hunderennen im ganzen Land antreten. Am Ende der Hundekarriere wird ausgezahlt, was vom Preisgeld übrig ist, und einer aus der Gruppe nimmt ihn mit nach Hause – Starring Storm ist ihr dritter Hund in zwölf Jahren.
Martin, einer der Hundebesitzer, steht in Jogginghose und Kapuzenpulli mit aufgerissenen Ärmeln vor den Fotos. Er hat, Schluck vom Glas, beim Referendum nicht abgestimmt – er wählt nicht. „Ist aber schon in Ordnung, dass Großbritannien jetzt raus ist“, sagt der Dachdecker und murmelt etwas von Unabhängigkeit und „seine eigenen Entscheidungen treffen“. Auf die Frage, wo sie denn in Zukunft ihre Hunde kaufen würden, wenn man nicht mehr so einfach mit Bargeld über die Grenze fahren kann, sagt er nichts und checkt die Wettquoten auf seinem Handy.
Am frühen Abend wird es voller. Chris „The Bike“ und Paul „The Cab“ kommen in den Barraum und setzen sich auf die Hocker, auf denen sie immer sitzen: Chris links, Paul rechts. Steve fragt sie nicht, was sie wollen. Kurzes Nicken, dann stellt er ihnen zwei Pints hin.
Auf der Bar neben den beiden liegt der „Daily Express“, die am weitesten rechts stehende aller britischen Boulevardzeitungen. Oben links prangt der Ritter mit dem Georgskreuz, unten rechts steht etwas von Brexit-Saboteuren und dem britischen Geist. Richard Desmond, der Besitzer des „Daily Express“, hat vor dem Referendum mehr als eine Million Pfund an Ukip gespendet – die Brexit-Partei.
„Ich will einfach zurück zur Normalität“, sagt Chris nach dem ersten Bier. Viel zu viele Fremde seien gekommen in den letzten Jahren, die Inder, die Pakistaner – und jetzt auch noch die Polen. Und alle, da ist er sich sicher, wollen Arbeitsplätze wegnehmen. Er selbst ist davon aber nicht betroffen, in der Gegend von Claygate gibt es nicht besonders viele Ausländer.
Auch Paul hofft, dass jetzt, mit dem Brexit, eine lange verlorene Normalität einkehrt. Ein Großbritannien wie in den 1960ern wäre ideal, findet er: „Die Zeit habe ich geliebt. Als ich ein Kind war, war hier noch alles in Ordnung.“
Die gute Zeit, an die sich Paul erinnert, hat es, objektiv gesehen, so nie gegeben. Als Großbritannien in den 1970ern der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beitrat, galt das Land als der „kranke Mann Europas“, lag weit abgeschlagen hinter Frankreich, Deutschland und sogar Italien. Das sind die Fakten.
Früher
Doch die Fakten und die Gefühle sind zweierlei. Die Vergangenheit, nach der sich die Menschen im „Winner“ sehnen, ist, wie der Pub selbst, eine Romanze mit der eigenen Erinnerung.
Und deshalb hört man im „Winner“ wieder und wieder ein Wort: früher.
Früher, sagt Paul, da waren wir doch wer in der Welt.
Früher, sagt Chris, da kanntest du die Leute noch, die dir auf der Straße begegnet sind.
Früher, sagt Steve, da konntest du, wenn der Wind richtig stand, die Löwen vom nahen Zoo bis zum „Winner“ brüllen hören. Heute hörst du nur noch die Autobahn.
Langsam kriecht die Dunkelheit zur Terrassentür. Im Fernsehen beginnen die Abendnachrichten, irgendjemand hat am Nachmittag irgendetwas zum Brexit gesagt. Steve wechselt den Sender. Eigentlich, sagt er, interessiere sich hier niemand für Politik – auch er nicht. Für den Brexit hat er trotzdem gestimmt – aus den gleichen Gründen wie alle anderen: Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, Einwanderung – kurze Statements, dann wieder Schweigen. Steves Erklärungen klingen wie ein verwaschenes Best-of der „Daily Express“-Leitartikel der letzten Jahre.
Luxus
Als im Juni 2016 klar war, dass sie gewonnen hatten, dass Großbritannien die EU verlassen würde, da haben sie im „Winner“ nicht gejubelt. Es sei mehr ein „Fickt euch!“ als ein Glücksgefühl gewesen, erzählt Steve und streckt, wie zur Betonung, den Mittelfinger in den Raum.
Und vielleicht war es am Ende nur das. Glücksgefühle, so scheinen sie das im „Winner“ zu sehen, sind was für Menschen, die sich das leisten können, diesen Luxus namens Glück. Ihnen ging es um ein Gefühl von Kontrolle über eine Situation, die zu komplex geworden war, um sie mit glücklicher Hand zu beherrschen.
Und so wählten sie. Entschieden sich, die EU zu verlassen, wie sie sich für oder gegen Tattoos mit den Namen großer Lieben, für oder gegen Wetteinsätze, für oder gegen das nächste Bier entscheiden. Entschieden sich ohne Zweifel oder langes Nachdenken, immer dem folgend, was sich in diesem Moment richtig anfühlt. Im Reich der Sehnsucht ist kein Platz für Argumente. Auch Argumente muss man sich leisten können.
Europa
Inzwischen ist es um den Pub herum Nacht geworden. Alan „The Sparks“ hat die Jukebox neben dem Männerklo – „I love that thing“ – mit Pfund-Münzen vollgemacht. Und deshalb dröhnt jetzt Musik durch den „Winner“, für 25 Pence pro Song. Die Männer an der Bar spielen Flaschendrehen mit einer leeren Weißweinflasche, und in der Jukebox läuft „Dancing Queen“ von Abba – Europop.
Über den Brexit denkt an diesem Abend niemand mehr nach. Von hier aus gesehen liegt Europa irgendwo weit hinter der Autobahn. Wichtig ist das Gegenteil davon, das, was man vor sich sieht. Die Extremgegenwart endet an den Butzenglasscheiben.
Gleich neben der Tür stehen zwei Frauen, beide Ende 40, beide aus Claygate, beide mit Weingläsern, die fast leer sind. Sie kreisen mit den Hüften und unterhalten sich darüber, ob ein Mann sich seinen Hintern rasieren lassen sollte oder nicht.