Kalifornien lag gleich neben der Kläranlage. Dort hatten sie uns einen kleinen Skatepark und ein Jugendzentrum hinbetoniert, am äußersten Rand der Stadt.
In Erinnerung habe ich den heißen Asphalt des Skateparks, Sangria aus einem Trinkrucksack, den einer von uns bei Aldi gekauft hatte – und die Skater, immer kurz vor dem internationalen Durchbruch oder der nächsten Handgelenksfraktur. Drum herum lag Niederbayern.
Die Stadt meiner Kindheit, Abensberg, ist, was Menschen, die viel von Ordnung und nichts von Poesie verstehen, als „Mittelzentrum“ bezeichnen. Ein Ort mit renoviertem histori- schen Stadtkern und einem Geschwür von Einkaufszentrum am Stadtrand. Drei Kirchen, genauso viele Brauereien, ein Judo-Leistungszentrum und immer noch derselbe Bürgermeister wie 1993.
In der Antike lag Abensberg an der Grenze des Römischen Reiches, heute liegt es wie eine Insel irgendwo zwischen Hopfen- und Spargelfeldern. Die nächste große Stadt ist 40 Kilometer entfernt, München eine halbe Realität.
Der Anti-Libero
Ich malte Anarchiesymbole in meine Schulblöcke, zeichnete mit Edding Tattoos auf meine Arme und Hände. Ich trug Nietengürtel, die bis zu den Kniekehlen hingen, und Jeans, die an den Knien nicht schnell genug aufreißen konnten. Ich trug T-Shirts mit Totenköpfen und Jacken mit Band-Buttons. Und obwohl ich mich – anders als meine Freunde – nicht traute, mir einen Iro schneiden zu lassen, war ich gefühlt nie härter als damals.
Mit den Fußballern der örtlichen B-Jugend pflegten meine Freunde und ich eine fast innige Feindschaft. Sie nannten uns „Zecken“, wir sie „Fußballdeppen“. Sie schlugen uns auf der Liegewiese des Freibads, und wir pinkelten in ihre halb leeren Apfelsaftflaschen, während sie im Becken waren. Weil ich wusste, dass ich als Libero nur verlieren konnte, stilisierte ich mich selbst als das Gegenteil.
Ich war gerade 16 geworden, da fragten mich Freunde, ob ich in ihrer Band mitmachen wollte. Skatepunk, Ska, die nächs- ten NOFX, Welttour irgendwann.
Von da an lebten wir im Rhythmus wöchentlicher Bandproben im elterlichen Keller. Wir coverten die Ramones und NOFX und begannen, eigene Songs zu schreiben. Wir spielten in Partykellern von Freunden, bei Geburtstagsfeiern und in der Aula der örtlichen Realschule. Wir hatten Fans, Freunde, die, rückblickend betrachtet, wohl eher trotz unserer Musik kamen – und nicht deswegen.
Unsere erste CD nannten wir „Law and Order“. Die Songs hießen „Fuck the Government“ und „Destroy the System“. Immer öfter fuhren wir weg aus Abensberg. Spielten in München, Regensburg, in Hof, Erfurt und Wien. Die große Welt lag jetzt offen da, und doch sahen wir sie kaum. Tage im Sprinter wechselten sich ab mit Nächten auf Bühnen und Matratzenlagern.
Verständnisvolle Eltern, Mittelschicht
Hätte uns damals jemand gefragt, ob Punk für uns politisch sei, wir hätten ihn wohl empört auf die Songtexte hingewiesen. Unserer Ansicht nach waren wir Band gewordener Widerstand gegen die Engstirnigkeit und die Enge unserer Heimat. Ich erinnere mich an einen Tag auf dem Volksfest, wir mit Nietengürteln und Totenkopfshirts, die anderen in Lederhosen. Wie in jedem Jahr traten Vertreter der Parteien in den Bierzelten auf, irgendwann rief einer von der Bühne in den Bierdunst: „Wir brauchen keine Chaoten!“
Wir waren nie stolzer. Im Kern jedoch gab es eigentlich nichts, wogegen wir wirklich hätten opponieren können. Unsere Eltern waren Erzieher, Sozialpädagogen und Ärzte, sie organisierten Seminare für gewaltfreie Kommunikation. Trotzdem schrien wir samstagnachts im Wald vor der Stadt „Fuck you, I won’t do what you tell me“. Wir waren Rebellen ohne Gegner, von verständnisvollen Eltern erzogene Mittelschichtjungs, die die Krassesten sein wollten.
Und so blieb der Bruch mit dem System, den wir so brachial in unsere frühen Songtexte packten, immer nur Pose. Wir brauchten ja gerade die Enge der Provinz, um uns selbst zu definieren. In der Stadt hätte sich kein Mensch um uns geschert, hier aber war die Rolle des Dorfpunks zu vergeben, und ich übernahm sie mit Freude und Leidenschaft.
Das Ende meiner Zeit als Punkrocker kam schleichend, als ich zu studieren begann. Eine Weile noch versuchte ich Bandproben, Konzerte und mein Leben als Student in einer anderen Stadt unter einen Hut zu bringen. Dann war Schluss. Das Einzige, was von dieser Zeit heute sichtbar bleibt, ist ein tätowierter Stern auf meinem Oberarm, den ich mir mit 19 stechen ließ. Und trotzdem sitze ich jetzt hier, 500 Kilometer und einige Jahre weg von alledem, und bekomme Gänsehaut, wenn „Tropical London“ von Rancid durch meine Wohnung dröhnt. Mein Herz schlägt 169 Schläge pro Minute, und ich fühle etwas, das ich lange nicht gespürt habe: wohlige Krassheit. Und Kalifornien liegt für einen kurzen Moment nicht ganz so weit hinter dem Atlantik.