Foto: Marc Fischer/Marc Jung
I. Erstes Date
Rotes Licht quoll durch die Glasfront des Kosmetiksalons Babette. Die Menschen strömten durch die Tür auf den breiten Gehsteig der Karl-Marx-Allee. Es war der letzte Sommer vor dem Ende, wenige Monate zuvor hat der neue Besitzer des Kosmetiksalons Babette den Betreibern gekündigt. Deshalb war dieser Abend auch so etwas wie ein kleiner Abschied von diesem Glaskubus, den die Realsozialisten einst für die Frauen der Kadermitglieder gebaut hatten. In Trauben hingen die Gäste vor dem Gebäude. Eine Frau mit Turban stand neben einem Mann, der eine Taschenuhr um den Hals trug, ein Mann mit goldener Paillettenjacke saß auf einer der Bänke neben der Bar.
Auf Facebook hatte Marc Jung eine Einladung für diesen Abend geschickt, kommentarlos. Bei der Gruppenausstellung, die an diesem Abend hier stattfinden sollte, hinge auch ein Bild von ihm.
Ein junger Künstler kurz vor dem Absprung - so war Marc Jung in den letzten Jahren immer wieder in der Öffentlichkeit aufgetaucht. Als einer, der es schaffen könnte, einer, der vielleicht, mit Glück, der nächste Malerfürst werden könnte.
Vor den Kunstwerken sang ein tätowierter Mann mit Netzunterhemd und goldenen Schuhen, nein - er jaulte. Die Hitze glänzte auf seinem kahl rasierten Kopf, lief ihm die Koteletten hinunter. Hinter ihm schlug einer, der aussah wie ein Schlagzeuglehrer, auf ein goldenes Glitzerschlagzeug ein. Auf dem Bauch des Rasierten prangte ein Tattoo, in massiver, schwarzer Schrift: ART.
Marc Jung selbst tauchte nicht auf. Das Einzige, was an diesem Abend in der Bar hing, war sein Bild. An der Rückwand der Bar hing es zwischen kleinen Leinwänden und Plastiken. 30x40 cm, mixed media on canvas. Auf grauem Hintergrund schmierten blaue, gelbe und rote Farbkleckse in alle Richtungen, so dick aufgetragen, dass sie fast von der Oberfläche zu tropfen schienen. Abstrakte Attacke auf Leinwand. 
Der Titel: "NICHTS IST SAFE".

II. Würstchen und Eis
Wenige Tage später, wieder in Mitte. Marc Jung ist da. Steht am frühen Nachmittag in Fußballshorts und  Stutzen auf dem Bolzplatz des SV Blau Weiß Berolina und kühlt sein  Bein. Die Haut seines Oberschenkels ist großflächig abgeschürft, er verzieht ein wenig das Gesicht und lacht. Dafür habe er ein Tor geschossen, passt schon.
Auf dem Plastikrasen zwischen  Linienstraße und Auguststraße laufen gerade zwei Fußballspiele, um den  Platz herum stehen Spieler und Zuschauer. Es gibt Würstchen vom Grill  und Eis, Hitze gratis. Zum sechsten Mal wird an diesem Tag der Mitte Cup  ausgetragen, bei dem Mannschaften der Berliner Kunstszene gegeneinander  antreten. Schlingensiefs Operndorf gegen Olafur Eliasson, die Galerie  Eigen+Art gegen Neugerriemschneider und König.
Der Nachmittag ist ein Schaulaufen. Gregor Hildebrandt steht, in pinken Chucks, weißer  Leinenhose und blass-pinkem Hemd am Spielfeldrand. Mit seinem  knittrigen, grauen Jackett und der pinken Nelke im Knopfloch sieht er ein wenig aus wie Gustav von Aschenbach im dritten Drittel von "Der Tod  in Venedig". Christian Ehrentraut, Senior Manager von Eigen+Art, schwenkt auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes eine riesige, orangefarbene Flagge mit dem Schriftzug der Galerie. Vor dem  Vereinsheim, in Leinenhose, Flatterhemd und bedrucktem Halstuch, steht  der Autor, Musiker, Moderator und Kurator Jan Kage und kommentiert die  Spiele live. Neben ihm steht der Wanderpokal von John Bock, ein schiefes  Gebilde aus Beige, zusammengehalten von metallenen Haken und Draht, und  wackelt ein wenig. Am Morgen war noch nicht klar gewesen, ob Jung an  diesem Tag spielen würde. Er hat in Berlin keinen Galeristen und ist auf  Verdacht zum Turnier gekommen. "Alle Mannschaften erstmal voll, aber  gucke zu und spiele vielleicht später mit", schreibt er auf Whatsapp. Fünf Minuten später: "Spiele doch mit beim Sieger vom letzten Jahr. Hatje Cantz."
Zwischen den Spielen bleibt Jung meist für sich. Er  tue sich schwer mit solchen Veranstaltungen, erzählt er.  Veranstaltungen, bei denen jeder doch immer nur über sich selbst und seine Kunst spricht. Aber ob das nicht nötig sei, um es als Künstler zu  etwas zu bringen? Ein wenig ratlos zieht er die Schultern nach oben.
Am Ende des Turniers schafft sein Team es bis ins Finale. Als er kurz  vor dem Schlusspfiff nach vorne flankt, ruft der Moderator vom  Spielfeldrand: "Toll spielt der, der Marc Jung, den können wir doch noch  irgendwo hin verkaufen!"
Hatje Cantz gewinnt, Jung holt sich gemeinsam mit dem Rest des Teams den Pokal ab. Ein paar Fotos für die  Instagram-Story auf dem Plastikrasen, Duschen und Umziehen. Bald nach dem Endspiel geht er nach Hause, nach Erfurt.

III. Zu geil für diese Welt
"Schau, da ist eines von ganz früher", sagt Marc Jung und zeigt aus dem Autofenster. Nur kurz ist an dem alten Fabrikgelände am Straßenrand von Erfurt ein bunter Graffiti-Schriftzug zu sehen, halb versteckt hinter einem Busch. Dann ist das Auto vorbeigezogen. Jung steuert durch den Norden Erfurts, vorbei an Plattenbauten, die wie Termitenhügel in den Himmel ragen, vorbei an sonnenverbrannten Wiesen und leeren Bürgersteigen. Dorthin, wo alles angefangen hat.
 1985 kommt er hier zur Welt, zu spät, um sich wirklich an die DDR zu erinnern. Aber alt genug, um ihre Nachwirkungen zu erleben. Seine Kindheit verbringt er mit seiner Mutter im Norden der Stadt, Roter Berg, Plattensiedlung für 15000, sozialistische Wohnburg am Rand der Stadt. Straßenbahnanschluss ins Zentrum erst seit 1992, Bevölkerungsrückgang seit dem Ende der Geschichte: 55 Prozent.
 Seine Jugend gehört dem Sport. Er ringt im Verein, kämpft auf Bundesliganiveau. Das mit der Kunst beginnt kurz vor dem Abitur. Jung beginnt zu sprayen, nachts, den Rucksack voller Dosen. Kleine Sachen zuerst, seinen Namen rückwärts, aber schon damals immer wieder: in Neonfarben. Aufbrechen der Ödnis, Attacke auf Beton. Lange dauert seine Karriere nicht. Er ist zu langsam für Graffiti, wird erwischt, muss bei der Wohnungsbaugenossenschaft, deren Gebäude er besprüht hatte, Sozialstunden ableisten.
 Aus der Strafe wird ein Job. Für einen Malermeister aus Erfurt beginnen er und ein Freund, Hauswände mit Streetart zu bemalen. Bei seiner Erkundungstour am Roten Berg findet er noch zwei seiner frühen Bilder. An den Wänden einer Schulturnhalle zwischen den Plattenbauten verblassen sie langsam in der Sonne.
 Mehrere Jahre arbeitet er für den Maler. Jugendhausgraffiti, meistens dessen Designs, manchmal darf er seine eigenen Ideen umsetzen. Man könnte Jung vorwerfen, er habe das Subversive damals zu schnell hinter sich gelassen, könnte anklagen, dass er alle Street Credibility nach nur einer Verhaftung einfach so über Bord geworfen habe. Jung sagt, dass er damals das erste Mal Kunst als Berufsbild verstanden habe.
Am Rand der Termitenhügel bremst Jung sein Auto ab und holt einen Ball aus dem Kofferraum. Zwischen den Bäumen liegt, hinbetoniert an den Abhang, ein Basketballplatz. Hier seien noch einige seiner alten Graffitis, erzählt Jung. 2003 habe er die gemacht.
Als er am Platz ankommt, findet er sie nicht mehr. Jemand hat die Betonwände an den Spielfeldrändern übermalt. Etwas unschlüssig steht Jung zwischen den Körben, als ein blonder Junge langsam auf ihn zu kommt. "Darf ich auch mal?", fragt er. Eine Weile dribbeln die beiden den Ball hin und her. Marc erzählt dem Jungen, dass er auf der Suche nach seinen Graffitis sei. "Ah, die? Haben sie vor einer Woche weggemacht", sagt der. Marc wirft noch ein paarmal auf den Korb. Dann bittet er mich, ihn für seine Instagram-Story zu filmen. Der Junge verabschiedet sich und verschwindet zwischen den Bäumen. "Zu geil für diese Welt", steht auf seinem Turnbeutel.

IV. Ich hasse alle, die Kunst machen
 "Hey, Marc! Na? Alles gut? Mal wieder hier?" Fünfzehn Minuten dauert der Weg durch die Stadt, fünfmal wird er angehalten. Es ist Abend, Jung ist auf dem Weg zu einer Ausstellungseröffnung. Immer bleibt er stehen und unterhält sich.
 In der Galerie hat die Eröffnung schon angefangen. Ansprachen und Musik, dann eine Lesung. Jung steht im hinteren Bereich der Veranstaltung, abseits der Menschentraube. Noch eine Ansprache. Jung beginnt in sein Handy zu tippen, er wirkt nervös. "Komm, lass mal gehen jetzt", sagt er dann. Er verabschiedet sich bei ein paar Umstehenden, gratuliert der Künstlerin noch schnell auf Instagram zur Ausstellung und verlässt die Galerie.
 Im Supermarkt kauft er Steak und zwei Bier und fährt mit der Straßenbahn ein paar Stationen, eine Freundin hat Geburtstag.
Unter einer Pergola in einem Hinterhof warten sie schon auf ihn. Marc setzt sich auf einen Gartenstuhl und macht sich ein Bier auf. Es gibt Bratwürste und Steak, Nudelsalat und Kuchen. Die Freunde sprechen über Ausflüge, ihr Studium, den Büroalltag und wann wer denn jetzt eigentlich Kinder bekommt. Jung hört zu. Kurz erzählt er vom Verpacken eines Bildes, dass er einem Sammler schicken will. Dass er Künstler ist, wissen hier alle. Es ist ihnen nur egal.
 Hinter Jung am Grill steht sein ältester Freund, den alle nur Schneider nennen. Jung kennt ihn seit kurz nach dem Abitur, der Freund arbeitet bei einer Wohnungsbaufirma, Nine to five, Job eben.
 "Wo warst'n du gerade noch?"
 "Ja, so ne Ausstellungseröffnung"
 "Von wem denn?"
 "Kennst du wahrscheinlich nicht."
 "Ja, natürlich kenne ich die nicht!", plärrt Schneider. "Ich hasse alle, die Kunst machen!"
 Jung bricht in lautes Lachen aus. Schneider sei seine Muse, wird er später sagen.
V. 50:50
2009 wird Marc Jungs Leben zu einer Wahrscheinlichkeitsrechnung, den genauen Tag weiß er nicht, vielleicht will er sich auch nicht erinnern. Er ist gerade in Wien, als er einen Anruf bekommt. Es geht um seinen Vater. Die Eltern ließen sich früh scheiden, Jung wuchs bei seiner Mutter auf. Bisher hatte sein Vater in seinem Leben kaum eine Rolle gespielt.
Nun ändert sich das schlagartig. Jung erfährt, dass bei seinem Vater Chorea Huntington diagnostiziert wurde. Nur rund sechs von 100.000 Menschen sind von der Erbkrankheit betroffen. Ein Gendefekt sorgt dafür, dass bei der Proteinbildung ein Überschuss an Glutamin gebildet wird. Dieses fehlerhafte Eiweiß sorgt dafür, dass Nervenzellen nach und nach absterben. Die bis heute unheilbare Krankheit, auch Veitstanz genannt, verursacht Bewegungsstörungen, Verhaltensveränderungen und führt am Ende zur Demenz und zum Tod. Bei den meisten treten die ersten Symptome zwischen dem 30. und 40. Lebensjahr auf. Jungs Vater war Mitte Fünfzig, als er die Diagnose bekam. Und Marc 25, als seinem Leben eine Prozentzahl vorangestellt wurde. Fünfzig Prozent. So hoch ist die Wahrscheinlichkeit für ein normales Leben. Genauso hoch wie die, dass er sehr viel weniger Zeit hat. 
"Mir hat das damals einen ziemlichen Stoß verpasst", erzählt Jung. Doch er meint das nicht negativ. "Als mein Vater diagnostiziert wurde, habe ich angefangen." Davor habe er sich immer vorbereitet, beim Malen, im Leben. Immer und viel zu gründlich. Immer war da der Gedanke, er sei noch nicht so weit - das war jetzt vorbei.
 Jung hört auf, Skizzen zu machen, hört auf, sich vorzubereiten - er malt einfach. Malt wie einer, der Früh-, Mittel- und Spätwerk in so wenig Zeit wie möglich packen muss. "Davor hab ich überlegt: Kann ich jetzt diesen Strich machen? Jetzt weiß ich, dass es einfach Wichtigeres gibt".
Anfangs dominiert die Unsicherheit seine Kunst. Jung verarbeitet seine eigene Überforderung, malt Bilder, die völlig überladen und chaotisch sind. Heute sei er thematisch weiter, sagt er, seine Bilder seien weniger chaotisch. Ein bisschen zumindest.
Als sein Vater diagnostiziert wird, meldet sich Jung für den Gentest an. Und macht ihn am Ende doch nicht. Auch nicht, als der Vater 2016 stirbt. Weil es ihm egal ist, sagt er. Weil es nichts ändern würde und sowieso nur zählt, was im Moment ist.
VI. Halb Chicago Bulls, halb Guernica
Smartphone, A$AP Rocky auf Spotify. Play. Wummern aus den Logitech-Boxen, die weiß gewesen sein müssen, bevor er sie in sein Atelier gestellt hat. Marc Jung nimmt eine Leinwand vom Stapel und hängt sie an zwei Nägel in der Wand. Die Farbflecke der Bilder, die an dieser Stelle schon entstanden sind, lassen den Beton aussehen wie ein abstraktes Gemälde. Jung schlägt sein Notizbuch auf. Fragmente von Songtexten, gekritzelt neben Zeichnungen. Verzerrte Fratzen, riesige Augen, gefletschte Zähne. "Welches soll ich machen? Das mit dem Bullen?" Nimmt eine schwarze Ölkreide aus einer kleinen Plastikschüssel und beginnt, sie über die Leinwand zu ziehen. 
Nach dem Abitur, Leistungskurs Kunst, studiert er Fine Arts an der Bauhaus-Universität in Weimar, er pendelt dorthin. Für sein Auslandssemester zieht er kurz nach Wien und studiert bei Daniel Richter. Danach geht er sofort wieder zurück nach Erfurt. Er bekommt drei Angebote für die Meisterklasse und wählt am Ende den Professor, der es ihm ermöglicht, von zu Hause zu pendeln.
 Mit Ölkreiden setzt er Akzente. Magenta und Karmin, dunkles lila und etwas, das irgendwo zwischen Orange und knallrot liegt. Dann greift er sich einige der Spraydosen, die überall im Raum verteilt sind. Neonfarben, deckend, Pink und pinkeres Pink. Fläche für Fläche erscheint ein fast bis zur Unkenntlichkeit abstrahierter Stierkopf auf der weißen Leinwand, halb Chicago Bulls, halb Picassos Guernica.
 "Als ich anfing, konnte ich nur A4 und ganze Wände", erzählt Jung. Langsam arbeitet er sich im Studium von der Street Art in die Fine Art vor. Malt alle Leinwandgrößen, versucht sich in Skulptur, hat seine ersten Soloausstellungen. Die Bühne verändert sich, der Plot bleibt derselbe.
 Hinter ihm zwängt sich ein vollgekritzelter, zugestellter Schreibtisch zwischen zwei windschiefen Regalen, an der Wand darüber klebt eine Collage aus zerfledderten Zetteln: Ein Ausdruck mit Fotos von Mickey Rourke hängt neben einem mit Bildern von Adolf Hitler. Ein Werbeflyer für Glutaminpulver und Glutaminkapseln hängt neben einem Zettel, auf den jemand mit krakeliger Schrift eine Headline geschrieben hat: "Madonna verliebt in 23-Jährigen?"
"Erforschungsfeldzüge durch das Chaos des menschlichen Miteinanders" nennt Jung seine Kunst in seiner Vita. Er spricht darin viel von Wahnwitz und Gesellschaft, von Irrwitz, vom Infragestellen von Genregrenzen, von der menschlichen Existenz - große Terminologie, gerichtet an Menschen, die Viten lesen.
 Weniger als 45 Minuten, nachdem er den ersten Strich gezogen hat, tritt er ein wenig von der Leinwand zurück. Der Geruch von Spraydosen liegt wie schweres Räucherwerk im Atelier. Aggressiv sticht der Stierkopf vor hellblauem Hintergrund von der Leinwand. Aber Jung ist noch nicht fertig.
 Er greift sich eine Palette von einem der Tische neben der bunten Wand und verteilt Farbe auf dem Stierkopf. Wirft Ölfarbe aufs Bild und verschmiert sie mit einem kleinen Pinsel. Setzt die Sprühdose so nah an die Leinwand, dass die Farbe wie Wasser nach unten läuft. Malträtiert das Bild so lange, bis es aussieht, als wäre ein Farbeimer darauf verblutet.
 "BULLS EYE wäre doch eigentlich ein ganz guter Titel", sagt er, als er eine Stunde, nachdem er angefangen hat, vor dem fertigen Bild steht.
 Menschen, die Kunst und Künstler vergleichen, fühlen sich bei Marc Jungs Bildern erinnert: an Basquiat, an Daniel Richter. Das Neon, das Chaos, die Verzerrtheit der Wirklichkeit auf der Leinwand.
 Wenn man Jung fragt, warum er die Kunst macht, die er macht, bekommt man eine weniger komplizierte Antwort. "Ich stelle dar, was ich sehe, so wie ich es sehe", sagt er. Und fügt einen Satz hinzu, der bei anderen manieriert klingen würde, eingeübt und aufgesetzt. "Ist jetzt auch nicht anders als bei einem Bäcker", sagt Jung. "Der versucht das, was er kann, so gut wie möglich zu machen. Und ich das, was ich kann." Bei ihm klingt es irgendwie stimmig.
VII. Elfenbein und andere veraltete Materialien
Zuerst ist da eine Steaksemmel. Mit Ketchup und einem darüber gemalten Herz. Ein Super-Mario-Gif beim Leinwandgrundieren - und immer wieder Marc Jung. Marc Jung mit dem Mitte-Cup-Pokal, Marc Jung bei der Bootstour mit Freunden, vor einem Van-Gogh-Selbstporträt, Marc Jung beim Bulettenessen mit seinem Großvater, Marc Jung beim Anti-Nazi-Konzert vor dem Nischl in Chemnitz.
 Wer dem Künstler auf Social Media folgt, sieht den Teil des Lebens, der es selten in die Feuilletons schafft. Jung führt Buch über seinen Alltag, minutiös, ohne Pause. Dokumentiert Reisen, Bilder, Momente - und immer wieder findet man dort Menschen, die auf ihn zurückstrahlen.
 Regelmäßig tauchen diese Bilder in seiner Timeline auf: Marc Jung mit Katrin Göring-Eckardt, Titel: "BÖSERBLICKBATTLE GEWONNEN GEGEN @goeringeckardt". Marc Jung mit Joko Winterscheidt, Marc Jung mit Frederick Lau, Marc Jung mit Clueso. Marc Jung mit Marteria, Marc Jung mit Paul Ripke, Marc Jung mit Lena Meyer-Landrut.
 Im Feuilleton würde man an dieser Stelle vielleicht schreiben: Die Vehemenz, mit der sich Marc Jung in den Fokus seines eigenen Schaffens stellt, bricht mit der Vorstellung von Kunst als elfenbeinerne art pour l'art.
 Jung schert sich nicht um solche traditionellen Grenzen zwischen Hochkultur und Kommerz. Im Gegenteil: immer wieder zieht er sie absichtlich ins Lächerliche. Eine seiner Soloausstellungen nennt er "Feuilletonisiert", unter dem Titel "Suckerzwerg for Zuckerberg" bemalt er eine Wand im Facebook-Büro in Berlin.
Als im Juni 2016 klar war, dass sie gewonnen hatten, dass Großbritannien die EU verlassen würde, da haben sie im „Winner“ nicht gejubelt. Es sei mehr ein „Fickt euch!“ als ein Glücksgefühl gewesen, erzählt Steve und streckt, wie zur Betonung, den Mittelfinger in den Raum.
Und vielleicht war es am Ende nur das. Glücksgefühle, so scheinen sie das im „Winner“ zu sehen, sind was für Menschen, die sich das leisten können, diesen Luxus namens Glück. Ihnen ging es um ein Gefühl von Kontrolle über eine Situation, die zu komplex geworden war, um sie mit glücklicher Hand zu beherrschen.
Und so wählten sie. Entschieden sich, die EU zu verlassen, wie sie sich für oder gegen Tattoos mit den Namen großer Lieben, für oder gegen Wetteinsätze, für oder gegen das nächste Bier entscheiden. Entschieden sich ohne Zweifel oder langes Nachdenken, immer dem folgend, was sich in diesem Moment richtig anfühlt. Im Reich der Sehnsucht ist kein Platz für Argumente. Auch Argumente muss man sich leisten können.
VIII. Alles super
 Wir sind kurz vor Berlin, als wir noch einmal über die Sache mit der Karriere zu sprechen beginnen. Es läuft Elektro, seit mehr als zwei Stunden steuert Marc Jung seinen silberfarbenen Peugeot über die Autobahn. Er ist die Strecke unzählige Male gefahren, von seinem Atelier in Erfurt zu seinem Atelier in Pankow und zurück. Vor ein paar Jahren hat er es gemietet, um mehr in Berlin zu arbeiten. Bisher habe das aber noch nicht so ganz geklappt.
 Im Kofferraum seines Autos liegt, in Luftpolsterfolie verpackt, eine bemalte Leinwand. Er hat die Rückbänke nach unten geklappt, ganz knapp passt das Bild so in den Wagen. Eigentlich wäre er heute gar nicht nach Berlin gefahren, doch ein Sammler aus Atlanta hat das Bild gekauft, und die nächste Fed-Ex-Station von Erfurt aus ist in Frankfurt - oder eben in Berlin.
 Beim Mitte-Cup hatte ich Jung schon einmal gefragt, ob er mit seinem Status als freies Radikal auf dem Kunstmarkt zufrieden sei. "Ich weiß nicht, ob ich überhaupt von einer Galerie vertreten werden will", sagte er damals.
 Früher hatte er eine Galerie in Erfurt, doch seit seine Kunstwerke international Sammler finden, vertritt er sich selbst. Über Saatchi, eine Art Etsy für ernstgemeinte Kunst, werden seine Bilder für bis zu 6000 Dollar angeboten. Jung verkauft regelmäßig und kann von seiner Kunst leben. Eigentlich passt das doch, sagte er damals neben dem Plastikrasen.
Jetzt, irgendwo zwischen Brandenburg und Fed-Ex, ist er sich nicht mehr so sicher. Berlin, und jenseits aller Liebe für seine Heimatstadt weiß Jung das auch selbst, ist über kurz oder lang unausweichlich für ihn. Weil nur, wer sich dem Markt aussetzt, auch in ihm ankommen kann. "In Erfurt unangefochten der König zu sein, bringt einem irgendwann auch nichts mehr", sagt er.
 Am Abend ist eine Ausstellungseröffnung in Tiergarten, er hofft, dort mit dem Galeriebesitzer sprechen zu können. In dessen Katalog würde er ganz gut passen, glaubt er. Immer wieder denkt er laut darüber nach, als müsse er sich selbst Mut zureden.
 Eine Stunde vor Ladenschluss lenkt Jung den Peugeot auf den Parkplatz der Fed-Ex-Station. Er öffnet den Kofferraum und zieht das luftgepolsterte Gemälde heraus. Er steckt es in einen Karton, in dem einmal ein Mountainbike verpackt war, verklebt ihn mit Gaffa-Tape und schiebt ihn in die Paketannahme. Als zwei Fed-Ex-Mitarbeiterinnen das Paket nach hinten bringen, fotografiert er sie dabei und postet das Bild auf Instagram - #marcjung. Dann fährt er in Richtung Innenstadt, zur Ausstellungseröffnung.
 Eine Stunde später schreibt er auf Whatsapp: "Der Galerist ist vor unserer Nase mit dem Rad weggefahren, also alles super."