Es geht fast immer gleich los. In der U8, irgendwo zwischen Hermannplatz und Jannowitzbrücke, in der U1 zwischen Warschauer Tor und Gleisdreieck. Jemand betritt den Wagon, einen Becher in der Hand oder einen dünnen Stapel Zeitungen. Der Zugestiegene unterbricht für einen Moment die Unzeit des Wegs zur Arbeit, zum Einkaufen, zum Feiern. Es gehört zum Sound des Berliner Gleisverkehrs wie das Quietschen der Bremsen, wie „Zurückbleiben bitte“ und das Quäken, wenn die Türen schließen.
„Entschuldigen Sie die kurze Störung“, so geht es fast immer los.
Die Sprüche, schon tausendfach vorgetragen als funktionale Gedichte, erzählen von verlorenen Kämpfen, von verpassten Chancen und Angst.
Da ist Peter Schramm, den man mittags in der U8 trifft. Ganz hinten betritt er die U-Bahn, schiebt sich dann in seinem Rollstuhl durch den Zug, mit dem linken Bein knapp über dem Boden, ohne das rechte. Alle paar Hörweiten sagt er den Spruch auf, mit Nachdruck, freundlich, egal ob jemand aufsieht oder nicht.
Da ist Peter Schubert, der an jeder neuen Station den Wagon wechselt und sich irgendwann einer älteren Frau mit rötlich angefärbten, weißen Haaren erklären muss, warum er sich “nicht einfach eine Arbeit sucht”.
Da ist auch Michael Apsel, der sich in übrig gebliebenem Schulfranzösisch interessiert mit zwei Schülern auf Berlintrip unterhält, bevor er ihnen zeigt, dass er seinen Spruch auch in ihrer Sprache aufsagen kann.
Ein paar Zeilen sind es, mehr nicht. In wenigen Sekunden müssen die Menschen mit ihren Bechern und Zeitungen die Fahrgäste davon überzeugen, ihnen Geld zu geben. Komprimierte Schicksale, Instant-Empathie – weil die Aufmerksamkeitsökonomie der Konsumgesellschaft auch die nicht verschont, die sie ausschließt.
Die Schicksale hinter den Sprüchen zu erzählen, dauert länger als die Zeit zwischen zwei Haltestellen. Doch hinter jedem Spruch steckt ein ganzes Leben. Man muss nur zuhören - länger als bis zur nächsten Haltestelle.
Das sind ihre Geschichten:
Guten Tag meine Damen und Herren,
ich bin 67 Jahre alt und habe vor acht Monaten
durch einen Raubüberfall mein Bein verloren.
Deshalb muss ich zusätzlich Astronautennahrung
aus der Apotheke zu mir nehmen.
Die zu bezahlen fällt mir sehr schwer
Ich glaube und vertraue
auf unseren Herrn Jesus Christus,
dass sie mich ein wenig unterstützen,
damit ich mir das leisten kann.
Gott segne euch.
ich bin 67 Jahre alt und habe vor acht Monaten
durch einen Raubüberfall mein Bein verloren.
Deshalb muss ich zusätzlich Astronautennahrung
aus der Apotheke zu mir nehmen.
Die zu bezahlen fällt mir sehr schwer
Ich glaube und vertraue
auf unseren Herrn Jesus Christus,
dass sie mich ein wenig unterstützen,
damit ich mir das leisten kann.
Gott segne euch.
Peter Schramm, 67
Ich gehe seit 16 Jahren schnorren, jeden Tag ein paar Stunden, in der U8. Nur in neuen Zügen, weil ich da mit dem Rollstuhl durchkann. Wenn ich 20 bis 30 Euro habe, höre ich auf. Dann kaufe ich mir etwas zu essen oder Klamotten. Ich möchte nicht aussehen wie der letzte Penner - und auch mit der Mode gehen. Ich bin immer anständig angezogen, keiner von denen, die in der U-Bahn rumstinken. Es ist mir sehr wichtig, dass ich gepflegt bin.
Manchmal kaufe ich auch Musik. Ich habe über 90 CDs, nur richtig gute Rockmucke aus den 70ern: Amon Düül, King Crimson, The Moody Blues, Led Zeppelin, Zappa und Cream. Leider ist vor ein paar Tagen mein CD-Player kaputtgegangen.
Seit zwei Jahren bin ich in Rente, bekomme aber nur Grundsicherung. Ich habe nicht viel gearbeitet in meinem Leben, weil ich lange gespritzt habe. Nur die Volksschule gemacht, meine Ausbildung abgebrochen. Mein Vater wollte, dass ich Klempner werde, Gas, Wasser, Scheiße - da hatte ich keinen Bock drauf. Ich wollte Koch werden.
Also habe ich die Unterschrift meiner Eltern gefälscht und bin abgehauen, nach Hamburg. Zwei Jahre war ich Seemann. 1972 wurde ich als Smutje angelernt. Ich kann ganz gut Englisch und Griechisch auch.
Auf dem Schiff bin ich zum Junkie geworden. Ich habe mir aus Casablanca Drogen mitgenommen, 80-prozentiges Heroin, nur für mich selbst. Ich hatte keine Probleme, ich bin einfach drauf abgefahren. Gearbeitet habe ich trotzdem lange. Mehrmals habe ich mich selbstständig gemacht. Zuerst mit einer Firma für Dachrinnenreinigung. „Tipp-Topp: Kleinstreparaturen im Haus und am Garten“, hieß die. Ich habe Bäume geschnitten, Pflaster gesäubert, solche Sachen eben.
"1984 habe ich mich mit HIV infiziert. Danach ging alles schief"
Danach hatte ich eine Firma für Bühnen- und Dekorationsbau. Mit der habe ich vor allem Festzelte aufgebaut. Das war geil, ich habe viel Geld verdient. Zu der Zeit habe ich angefangen, Kokain zu nehmen, weil ich jeden Tag mehr als zwölf Stunden gearbeitet habe. In die Rente eingezahlt habe ich nichts, ich hatte nur eine Krankenversicherung.
Danach hatte ich eine Firma für Bühnen- und Dekorationsbau. Mit der habe ich vor allem Festzelte aufgebaut. Das war geil, ich habe viel Geld verdient. Zu der Zeit habe ich angefangen, Kokain zu nehmen, weil ich jeden Tag mehr als zwölf Stunden gearbeitet habe. In die Rente eingezahlt habe ich nichts, ich hatte nur eine Krankenversicherung.
1984 habe ich mich mit HIV infiziert, danach ging alles schief. Seitdem habe ich nur noch kleine Jobs gemacht, mal hier was, da was.
Mit meinem HIV gehe ich heute ganz offen um. Viele der anderen Jungs sagen: Nee, das trau ich mich beim Schnorren nicht zu sagen. Mir ist das egal. Geoutet habe ich mich in der Sat1-Sendung „Einspruch!“ mit Ulrich Meyer. Da ging es auch ums Betteln in der U-Bahn. Vom Publikum habe ich damals Standing Ovations bekommen, aber manche der Politiker wollten mir danach die Hand nicht mehr geben.
Ich habe heute null Viruslast und über 400 Helferzellen. Seit 1992 nehme ich Medikamente, eine Dreierkombination ohne Unterbrechung. Ich kann so alt werden wie jeder andere. Manchmal vergesse ich, dass ich HIV habe.
"Dann mussten sie mir das Bein abnehmen"
Im Rollstuhl sitze ich, seit ich vor acht Monaten von drei Leuten vor der Sparkasse am Kotti angegriffen wurde. Wegen 60 Euro. Den Ersten konnte ich noch umhauen, ich habe früher Tai-Chi gemacht. Dann haben sie mich aber doch zu Boden gerissen und mir immer wieder in die Leiste getreten. Dabei ist eine Ader geplatzt, infolgedessen habe ich eine Sepsis bekommen. Deshalb mussten sie mir das Bein abnehmen.
Im Rollstuhl sitze ich, seit ich vor acht Monaten von drei Leuten vor der Sparkasse am Kotti angegriffen wurde. Wegen 60 Euro. Den Ersten konnte ich noch umhauen, ich habe früher Tai-Chi gemacht. Dann haben sie mich aber doch zu Boden gerissen und mir immer wieder in die Leiste getreten. Dabei ist eine Ader geplatzt, infolgedessen habe ich eine Sepsis bekommen. Deshalb mussten sie mir das Bein abnehmen.
Vor dem Überfall wohnte ich in der Neuköllner Warthestraße. Da habe ich mich so wohl gefühlt. Aber ich musste in die Reichenberger Straße ziehen, weil die alte Wohnung nicht rollstuhlgerecht war.
Als ich noch gespritzt habe, habe ich auch einige Jahre auf der Straße gelebt. Heute bin ich clean. Ich bekomme Methadon, aber ich lasse die Dosis grade runterfahren, weil ich oft Bauchschmerzen habe.
Jetzt, wo ich im Rollstuhl sitze, habe ich 20 Euro schneller beisammen als früher. Die Leute reagieren freundlicher, wenn ich sie um Geld bitte. Manche wollen wissen, warum ich im Rollstuhl sitze, was passiert ist. Ich unterhalte mich gern, aber die meisten daddeln heutzutage nur noch mit ihrem Handy rum, schauen nicht mal mehr hoch.
Die Menschen, die wenig haben, geben am meisten. Ich versuche auch, jeden Monat beim Roten Kreuz für ein Berliner Kind zu spenden. Kinder sind die Zukunft.
Überwindung hat mich das Schnorren nie gekostet. So was ist mir scheißegal. Klar, manchmal feinden mich Leute an, aber da gehe ich gar nicht drauf ein. Trotzdem versuche ich, den Berufsverkehr zu meiden. Da sind die meisten schlecht gelaunt, weil sie gerade von der Arbeit kommen oder zur Arbeit müssen. Lieber sind mir die, die shoppen oder feiern gehen.
Natürlich würde ich gern etwas anderes machen. Ein Pförtnerjob wäre super, wo man auf einen Knopf drückt und die Leute reinlässt. Das könnte ich mit dem Rollstuhl machen. Ich möchte unbedingt einen Elektrorollstuhl haben. Mit dem Handrollstuhl brauche ich allein von meiner neuen Wohnung bis zum Kotti eine Stunde.
Ich lese viel, hauptsächlich Science-Fiction. Am besten finde ich Perry Rhodan und Isaac Asimov. Die Dinge, die in den Büchern beschrieben werden, die wird es bald geben. Ich freue mich darauf. Am liebsten würde ich tausend Jahre alt werden. Oder zehntausend.
Guten Tag, die Herrschaften.
Ich bin seit 2,5 Jahren auf der Straße,
ich habe keine Arbeit und keine Wohnung.
Das Einzige, was ich besitze,
sind die Klamotten, die ich anhabe,
dieser Schlafsack und diese Wolldecke.
Vielleicht hat jemand ja eine kleine Spende übrig.
Ich wäre sehr dankbar.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich bin seit 2,5 Jahren auf der Straße,
ich habe keine Arbeit und keine Wohnung.
Das Einzige, was ich besitze,
sind die Klamotten, die ich anhabe,
dieser Schlafsack und diese Wolldecke.
Vielleicht hat jemand ja eine kleine Spende übrig.
Ich wäre sehr dankbar.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Peter Schubert, 59
Hätte ich damals mit 23 den Raub nicht gemacht, wäre ich heute wahrscheinlich nicht hier. Ich hatte gerade geheiratet, wir hatten eine Wohnung in Schweinfurt und zwei kleine Kinder. Ich arbeitete in einer Fabrik, dort habe ich am Band Motoren zusammengebaut.
Dann habe ich einen Kredit aufgenommen, 36 000 Mark. Damit habe ich die Wohnung eingerichtet, ein Auto gekauft und ein Motorrad. Irgendwann haben sie mich in der Firma wegen zu vieler Fehlzeiten rausgeschmissen und ich konnte die Raten nicht mehr zurückzahlen. Da bin ich auf die dumme Idee mit dem Raub gekommen.
Den habe ich gemeinsam mit meinem Bruder durchgezogen. 7000 Mark haben wir erbeutet - zuerst hat es auch funktioniert. Aber zwei Jahre später hat uns jemand verpfiffen, und ich habe mehr als vier Jahre Gefängnis bekommen.
Dadurch habe ich alles verloren. Mein Auto war weg, ein richtig geiler Amischlitten für 14 650 Mark, meine 650er Kawasaki. Meine Frau ist nach Amerika durchgebrannt, während ich im Gefängnis war. Mein jüngster Sohn lebt bis heute dort. Als ich aus dem Knast kam, hatte ich nur mehr zwei Tragetüten.
Im Knast bin ich auch zum ersten Mal mit hartem Zeug in Kontakt gekommen. Als Teenager hatte ich mal gekifft, mehr nicht.
In Berlin bin ich seit 2014, wegen der Drogen. Ich bin alkohol- und heroinabhängig und in Schweinfurt kostet das viel mehr. Auch die Strafen sind dort höher. Da fährst du für einen Hit bis zu sechs Monate ein.
2011 habe ich schon mal einen Monat in Berlin verbracht, für eine Therapie. Aber da durfte man nicht rauchen und keinen Kaffee trinken. Ich hatte damals sogar eine Wohnung, aber weil ich in Bayern noch zehn Monate Gefängnis ausstehen hatte, die ich absitzen musste, weil ich die Therapie geschmissen habe, habe ich die wieder verloren.
2014 dachte ich, ich krieg wieder eine Unterkunft. Aber alle Hostels, Pensionen und Hotels sind mit Flüchtlingen belegt. Und das, was frei ist, ist zu teuer.
Seitdem schlafe ich draußen. Sommer wie Winter. Ein Kumpel und ich übernachten im Eingang von Hugo Boss an der Weinmeisterstraße. Wir suchen dringend ein Zimmer für den Winter, aber wir finden nichts. Es ist gefährlich draußen: Ich bin ausgeraubt worden, ich bin zusammengeschlagen worden, ich bin sexuell belästigt worden. Nachts sind Verrückte unterwegs in Berlin, da muss man echt aufpassen.
Sozialhilfe bekomme ich keine. Da ist was durcheinandergekommen, als ich das letzte Mal im Gefängnis war. Deshalb bitte ich in der U-Bahn Leute um Geld. Ich habe das bei Bekannten gesehen, die verkaufen die „Motz“ oder machen Musik. Ich kann keine Musik machen, also frag ich halt so und sag den Leuten ganz ehrlich, was los ist.
Die Leute wissen, dass ich ehrlich bin. Ich bin immer in der U1 unterwegs. Ich habe nicht immer den gleichen Text, manchmal ändere ich ihn ein wenig. Ich sage es dazu, wenn ich neue Klamotten von der Caritas bekommen habe, sonst denken die Leute, der hat doch eine saubere Lederjacke an, der lebt doch nicht auf der Straße. Da zieh ich dann die Jacke lieber aus. Nicht, dass die Leute denken, ich bin reich und gehe trotzdem betteln.
Das erste Mal hat mich unglaubliche Überwindung gekostet. Zwei, drei Tage habe ich mich darum gedrückt, ständig mit mir gekämpft. Dann habe ich zwei, drei Bier getrunken und bin in die U-Bahn eingestiegen. Es ist leichter, wenn du ein bisschen drauf bist.
Wie viel die Leute geben, ist unterschiedlich. Oft wollen mir auch Kinder etwas geben, aber das lehne ich ab. Da würde ich mich schämen.
Ich würde lieber acht Stunden arbeiten, als jeden Tag 13 Stunden in der U-Bahn zu betteln. Am Abend tun mir die Beine weh, und ich freue mich auf nichts mehr, als mich wieder hinzulegen, auch wenn es nur die Platte ist.
Die meisten Leute sind sehr nett. Es gibt Leute, die kennen mich, die geben mir regelmäßig etwas. Das freut mich besonders, weil es zeigt, dass es ihnen persönlich wichtig ist. Manchmal laden mich Leute auf etwas zu essen ein.
Am schlimmsten sind Samstag und Sonntag, da sind kaum Leute unterwegs. Unter der Woche geben die Arbeiter eigentlich am meisten. Die beste Zeit ist von 17 Uhr bis 21 Uhr. Touristen geben kaum was.
Ich habe auch schon Schlägereien gehabt. Junge Leute, 20 bis 30 Jahre jünger als ich, haben mich angepöbelt. „Obdachloser, du stinkst, geh weg von hier“, haben sie gesagt. Aber ich stinke nicht. Ich pflege mich, in der Hygienestation am Zoo oder in der Fixerstube am Kotti. Da kann ich auch meine Klamotten wechseln.
Du musst wenigstens einmal in der Woche duschen, sonst verdreckst du total. Es gibt Leute auf der Straße, die sich monatelang nicht waschen, die haben irgendwann offene Stellen am Körper, Abszesse - und am Ende muss man ihnen die Beine abnehmen.
Ich fahre meistens schwarz. Im Moment muss ich deswegen 800 Euro Strafe abzahlen, in Raten von 20 Euro monatlich. Diesen Monat bin ich mit meiner Rate hinterher. Ich muss aufpassen, dass das nicht in Haft umgewandelt wird.
Über die letzten zwei Monate Gefängnis war ich eigentlich aber froh. Ich hatte ein schönes warmes Bett, was zu essen, hab Methadon bekommen und ärztliche Behandlung.
Wenn ich in den letzten 30 Jahren nicht ab und zu im Knast gewesen wäre, wäre ich wahrscheinlich längst tot.
Schönen guten Tag, liebe Fahrgäste.
Bitte entschuldigen Sie die kurze Störung.
Sie können sich ja vorstellen, das hier ist nicht leicht.
Deshalb möchte ich nicht mit leeren Händen kommen.
Ich habe hier die „Motz“ bei mir,
eine Zeitung von und für Obdachlose.
Mit einem Euro zwanzig können Sie ein Leben bewahren,
einem Menschen Obdach geben für eine Nacht.
Danke und Gott segne Sie.
Bitte entschuldigen Sie die kurze Störung.
Sie können sich ja vorstellen, das hier ist nicht leicht.
Deshalb möchte ich nicht mit leeren Händen kommen.
Ich habe hier die „Motz“ bei mir,
eine Zeitung von und für Obdachlose.
Mit einem Euro zwanzig können Sie ein Leben bewahren,
einem Menschen Obdach geben für eine Nacht.
Danke und Gott segne Sie.
Michael Apsel, 50
Es kostet mich bis heute unglaubliche Überwindung, Leute anzusprechen. Es ist mir immer noch jedes Mal peinlich - obwohl 99,9 Prozent der Menschen nett sind. Die übrigen sagen Sachen wie: „Geh arbeiten.“ Da reagiere ich dann nicht drauf.
Ich würde ja gerne arbeiten, aber gerade kann ich leider nicht. Ich bin in einem alten Paar Schuhe umgeknickt, die Schnürsenkel hatten sich verhakt. Beim Hinfallen habe ich mir das Becken gebrochen. Ich habe sogar eine Bestätigung dabei, gestern war ich im Krankenhaus. Ich habe oft das Gefühl, manche Leute, die betteln, benutzen Krücken, obwohl sie sie gar nicht brauchen.
Normalerweise mache ich Ein-Euro-Jobs. Die finde ich gut. Ich habe schon in einem Fahrradladen gearbeitet, beim Grünflächenamt und in drei Tischlereien. Ich bin gerne produktiv, will etwas zurückgeben, nicht nur nehmen.
Ich bin in Mannheim geboren, am 14. Januar 1967. Albert Schweitzer hat am gleichen Tag Geburtstag wie ich. Meine Mutter hat mich nach meiner Geburt weggegeben, aber das hat mir meine Adoptivfamilie erst gesagt, als ich 19 war. Gewusst habe ich es immer. Umarmungen fühlten sich nie so vertraut an, wie sie das eigentlich sollten. Als ich sechzehn war, ist meine Adoptivmutter gestorben, an Multipler Sklerose. Mein Stiefvater hat mir danach klar zu verstehen gegeben, dass er mich nicht wollte.
Ich war auf dem Lessing-Gymnasium, dort habe ich Englisch und Französisch gelernt. Sprachen liebe ich bis heute. Als Jugendlicher habe ich viel Musik gehört: The Doors und Pink Floyd. Ich wusste, dass die Drogen nahmen - und das wollte ich auch ausprobieren. Haschisch und LSD, was anderes gab es damals nicht in Baden-Württemberg. Mit 16 habe ich das erste Mal gekifft. Mit 17 bin ich in die Niederlande gefahren, mit Freunden, um in Arnheim die Speisekarte rauf und runter zu rauchen.
Irgendwann musste ich die Schule schmeißen. Die Noten haben einfach nicht mehr gereicht. Eine Lehre zum Kfz-Mechaniker habe ich abgebrochen. Eine Zeit lang habe ich als Tenniswart gearbeitet, Karten verkauft: Sozialkarten, Studentenkarten, Zehnerkarten, Rentnerkarten. Das war ein guter Job - immer zehn Tage Arbeit, dann vier Tage Pause.
Als ich 19 war, hat mein Adoptivvater mir den Pflichterbteil ausgezahlt, 10000 Mark. Ich habe mir eine Wohnung in der Innenstadt genommen, ein Auto gekauft und weitergejobbt, meistens als Leiharbeiter. Irgendwann habe ich härtere Drogen ausprobiert.
Als ich 21 war, bin ich für zwei Jahre nach Arnheim gezogen. Ich habe ein bisschen gejobbt und bei dem Coffeeshopbesitzer übernachtet, bei dem meine Freunde und ich das erste Mal gekifft hatten. Dort habe ich auch Niederländisch gelernt. Mit Sprachen tue ich mich echt leicht.
Irgendwann bin ich dann wieder zurück nach Mannheim gezogen und habe meine erste Freundin getroffen. Sie war ein wenig älter als ich, in ihren Dreißigern. Aber das hat man nicht gesehen. Leider war sie mit einem GI verheiratet, der eine posttraumatische Störung hatte und sie immer wieder schlug.
Deshalb habe ich mit dem Rest meines Erbes eine Wohnung im Schwarzwald für uns gemietet. In einem ganz kleinen Kaff haben wir was bekommen. Ich habe im Kreiskrankenhaus Tuttlingen ein Praktikum als Pfleger angefangen, das ist bis heute mein Traumjob.
Meine Freundin hat in dieser Zeit öfter über Magenschmerzen geklagt. Irgendwann ist sie zum Arzt gegangen. Der sagte ihr, dass sie Gebärmutterhalskrebs habe und hat sie sofort nach Mannheim ins Krankenhaus überwiesen.
Geholfen hat es nichts. Der Krebs hatte Metastasen gebildet. Ich habe alles hingeschmissen und sie jeden Tag besucht. Bis zum Ende.
Als sie starb, beschloss ich, mich umzubringen. Ich bin nach Holland gefahren und wollte mir den goldenen Schuss setzen. Heroin hatte ich davor zweimal ausprobiert. Ich wollte in Watte gepackt sterben.
Am Ende war ich zu feige. Davon reden ist leicht, es wirklich zu machen etwas ganz anderes. Also bin ich zurück in den Schwarzwald gefahren und habe mich zum Entzug gemeldet. Daraufhin stellte man mir verschiedene Klinikangebote zur Wahl. Ich habe mir Tannenhof ausgesucht - so bin ich nach Berlin gekommen.
Nach fünf Monaten habe ich vorzeitig abgebrochen. Ich dachte, das reicht jetzt. Ich bin aufs Amt gegangen und glaubte, die geben mir einfach eine Fahrkarte zurück nach Mannheim. Stattdessen haben sie mich gefragt, ob ich nicht ein Pensionszimmer und Sozialhilfe wolle, unter der Bedingung, dass ich mir einen Job suche.
Ich habe gedacht: Na klar, Berlin, das ist es!
Kurz darauf habe ich angefangen, bei einer Zeitarbeitsfirma zu arbeiten - bis zum ersten Gehalt. Als ich das in der Hand hatte, ein bisschen über 1000 Mark, habe ich mich umgehört, wo es denn was „Schönes“ gibt. Für 20 Mark Heroin, für 20 Kokain und für zehn Gras. „Nur heute mal“, dachte ich.
Aber wer zog am Samstag wieder los, und am Sonntag, und meldete sich Montag krank? Meinen Job habe ich natürlich verloren. Dann ging das Zeitungsverkaufen los. Das war vor 20 Jahren.
Dass ich heute weg bin vom Heroin, ist ein Wunder. Ich meine das so, wie ich es sage.
Am Babystrich in der Kurfürstenstraße gab es damals ein Café, das von freikirchlichen Christen getragen wurde. Die haben Kaffee und Kuchen gehabt und die Botschaft, dass man Jesus in seinem Leben braucht.
Ich bin da damals, 1998 war das, immer wieder hingegangen. Wegen des Kaffees, nicht wegen Jesus. Es gab da aber einen Mann, der ein Jahr lang auf mich eingeredet hat, mir von Jesus erzählt hat und davon, wie mir der Glaube helfen kann.
Irgendwann habe ich es ihm abgenommen. Ich habe mich taufen lassen, in der großen Kirche am Südstern, mit Untertauchen und allem. So wurde ich wiedergeboren.
In derselben Woche habe ich Methadon verschrieben bekommen. Ich glaube fest daran, dass das ein Wunder war. Seitdem bin ich clean, auf Substitut, seit 19 Jahren. Ich habe wieder eine Freundin, die ich in der Gemeinde kennengelernt habe. Fünf Jahre ist das her.
Zeitungen verkaufe ich auch heute noch, aber nur zwei bis drei Stunden am Tag.
Vor Kurzem war ich im Lernladen in Neukölln. Die haben mir gesagt, es gebe eine kostenlose Englischprüfung, die jeder mitmachen könne, zweimal im Monat. Dann bekommt man das Cambridge First Certificate. Das möchte ich mal versuchen.
Ich bin eigentlich ein zuversichtlicher Mensch. Seit ich Christ bin sowieso. Das mit meinem Becken dauert noch zwei Wochen, dann kann ich wieder arbeiten gehen.