Ich fand den kaputten Höhenmesser in einer Schublade in der Wohnung meines Vaters, irgendwann im Frühjahr 2009. So groß wie ein Kompass, eingefasst in einer Hülle aus speckigem Leder lag er da, die Nadel verklemmt bei 2.600 Meter. Lag da wie ein Objekt aus einer anderen Zeit. Völlig unbrauchbar. Im kindischen Reflex, besitzen zu wollen, fragte ich meinen Vater, ob ich ihn haben könne. Er lachte. "Nimm ihn mit", sagte er. "Anzahlung auf dein Erbe." Ich lachte, nahm das Gerät mit nach Hause, legte es auf meinen Schreibtisch und hätte es, wäre alles normal gelaufen, wohl nach einer Weile verloren.
Ich habe es nicht verloren.
Am 4. Juni 2009 verließ mein Vater mit seinem Motorrad seinen Wohnort in Niederbayern. Er kaufte sich noch einen Beutel Tabak an der Tankstelle am Rand der Stadt und fuhr die Staatsstraße 2144 in Richtung Osten. Als er um 19.25 Uhr kurz hinter dem Ortsausgang – Kilometer 9.100 – die Einmündung zu einer Bundesstraße passierte, nahm ihm ein weißer Passat die Vorfahrt.
"Für den Fahrer des Kraftrads war das Kollisionsgeschehen definitiv nicht vermeidbar", stand später im Unfallgutachten, und: "Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Unfallereignis und Todeseintritt ist zu bejahen."
Normalerweise, in Gesprächen mit Freunden und Bekannten, würde ich an dieser Stelle schnell beschwichtigen, dass all das ja beinahe zehn Jahre her ist, oder dass Dinge eben passieren. Würde betonen, wie normal das alles ist, bloß kein Mitleid. Und ich würde das alles so meinen. Aber ich würde es auch sagen, weil ich nicht so recht weiß, was ich sonst sagen soll.
Bis zu dem Moment, als mich in der Notaufnahme des Uniklinikums zwei Ärzte in ein leeres Behandlungszimmer führten und mir sagten, ich solle mich doch lieber setzen, hatte ich über den Tod nie großartig nachgedacht. Ich nahm Sterblichkeit nicht ernst. Großeltern starben mit 85 und Rockstars ein paar Jahrzehnte früher – Väter nicht. Der Tod war ein Abtreten zum Ende eines vollendeten Stückes – keine unvorhergesehene, unfassbare Leere, wo vorher sein Höhepunkt war.
Wenn ich ehrlich bin, hatte ich auch über meinen Vater nie wirklich nachgedacht. Seine Gegenwart in meinen ersten 21 Jahren war für mich selbstverständlich gewesen, unhinterfragt und ohne Alternative. Dass er irgendwann nicht mehr da sein würde, war für mich nur eine theoretische Wahrscheinlichkeit, verschoben an den Rand meines Lebens.
Bei all meinen Versuchen, mir heute die Zeit unmittelbar nach dem Tod meines Vaters ins Gedächtnis zu rufen, sie mir selbst irgendwie als Geschichte zu erzählen, lande ich am Ende jedes Mal vor einem ungeordneten Haufen aus Emotionen und Erinnerungen, die sich jeder Gewichtung und Reihenfolge widersetzen.
Da sind Autofahrten im Honda Jazz meiner Mutter, kreuz und quer durch den Landkreis, mit einer Palette Espresso in Dosen vom Supermarkt im Kofferraum, die ich gekauft hatte aus Angst, ansonsten vor lauter Erschöpfung einfach mitten am Tag einzuschlafen.
Da ist das Album von Mark Knopfler. Ich hatte es am Tag nach seinem Tod im CD-Laden des örtlichen Einkaufszentrums gekauft, weil ich wusste, dass mein Vater ihn mochte. Ich spielte es im CD-Spieler des Autos, endlos und ohne Pause. Ich hatte sonst im Auto einfach Radio gehört. Jetzt ertrug ich es nicht. Es hätte mich daran erinnert, dass die Welt einfach weiter existierte.
Da ist die Schulfreundin, die ich Jahre nicht gesehen hatte und die mich auf der Straße umarmte, weil sie in der Zeitung vom Unfall gelesen hatte und die Tatsache, dass keine Namen genannt wurden, in unserer Kleinstadt nichts hieß. Ich stand stocksteif da und antwortete auf die Frage, wie es mir gehe, als wäre ich mein eigener Pressesprecher. Passt schon. Wird schon.
Da sind die Träume. Agententhriller, in denen der Unfall nur fingiert war und mein Vater sich aus unerfindlichen, aber im Traum völlig logischen Gründen unter falschem Namen in immer neuen südeuropäischen Städten versteckte. Jeden Morgen wachte ich schweißgebadet auf und erfuhr aufs Neue, dass er tot war. Ich fing an, nachts den Fernseher laufen zu lassen.
Da sind meine Spaziergänge zum Unfallort, das Verweilen auf einer Verkehrsinsel mit Blick auf die gesprühten Umrisse des Motorrads und einer Form, in der ich glaubte, meinen Vater zu erkennen. Ich weiß nicht mehr, ob der Regen sie irgendwann wegwusch oder sie abgerieben wurden vom Verkehr, der darüberfuhr.
Da ist das Gefühl, dass all diese Erinnerungen komplett losgelöst sind von einer Emotion, die sich damals wie ein Filter über jedes Erlebnis legte. Sie Trauer zu nennen, fühlt sich bis heute irgendwie falsch an.
Wann genau diese erste Zeit endete, kann ich nicht sagen. Alles, was in diesen Wochen passierte, erscheint mir heute unwirklich, als hätte jemand, der ich einmal war, es mir erzählt. Das einzige, woran ich mich mit Sicherheit erinnere, ist das Gefühl einer Zäsur, das Bewusstsein, dass ich später einmal empfinden würde, der Tod meines Vaters habe meine Zeit in ein Vorher und ein Nachher geteilt. Und dass ich mich nun in diesem Nachher würde einrichten müssen. Irgendwie.
Würde man meinen Lebenslauf hinschreiben, das, was am 4. Juni 2009 passiert ist, fiele nicht weiter auf. Von außen betrachtet veränderte sich nicht viel. Ich beendete mein Studium in Bayern, machte ein Auslandssemester und zog dann nach Großbritannien, um dort weiterzustudieren. Dann zog ich nach Berlin. Alles normal.
Und so fühlt es sich, wenn ich nicht groß darüber nachdenke, auch für mich an. Normal. Heute, fast zehn Jahre später, darüber zu schreiben, wie es ist, keinen Vater mehr zu haben, ist mir fast unmöglich. Nicht, weil ich seinen Tod verdrängt hätte. Vielmehr erscheint es mir beim Nachdenken darüber, als hätte ich ihn in meine Existenz komplett eingearbeitet, wie Fäden in einen Teppich. Ich lebe nicht, als wäre das, was passiert ist, nie passiert. Ich lebe, als wäre das, was passiert ist, normal. So wie ich vor seinem Tod die Existenz meines Vaters nie hinterfragte, nehme ich jetzt das Gegenteil davon als selbstverständlich hin.
Nur manchmal wird mir klar, dass das nicht so ist.
Vor einigen Monaten zog ich in eine neue Wohnung. Ich kaufte eine Küche bei Ikea. Und als die Pakete in meinem Flur standen, hätte ich ihn gerne angerufen. "Hey, Papa", hätte ich gesagt. "Könntest du ...". Und bevor ich den Satz noch fertig gesprochen hätte, hätte er Ja gesagt. Hätte Werkzeuge mitgebracht und einen Kasten Spezi und wir hätten uns gemeinsam durch Anleitungen, so dick wie Taschenbücher, gekämpft. Er hätte mir erklärt, wie ich die Stichsäge benutzen muss und ich hätte ihn angefahren, dass ich das selbst könne und ihn eigentlich gar nicht brauche. Wir hätten eine halbe Stunde gestritten, uns vielleicht sogar angeschrien. Am Ende wären wir vor der fertigen Küche gestanden und er hätte gesagt, dass wir das gut hinbekommen haben. Dann wären wir vielleicht im Innenhof gesessen oder hätten uns einen Kaffee an der Ecke geholt. Dann wäre er wieder nach Hause gefahren und ich hätte das alles für selbstverständlich gehalten.
Stattdessen rief ich meinen besten Freund an. Druckste ein wenig herum und er sagte: "Ich komme vorbei." Selbstverständlich. Wir kämpften uns durch die Anleitungen, er zeigte mir, wie ich die Stichsäge benutzen muss. Kurz dachte ich an meinen Vater, als wir fertig waren, fragte mich, wie er unsere Sägefähigkeiten bewertet hätte. Dann gingen wir ein Bier trinken und ich vergaß es wieder.
Anfang dieses Jahres stand ich in einem Café in Berlin. Ein Freund hatte mich zu einer Lesung mitgenommen, Mareike Nieberding stellte ihr erstes Buch Ach, Papa vor. Sie erzählt darin von ihrer Beziehung zu ihrem Vater und darüber, wie sie sich, jetzt, da sie erwachsen ist, bei einer gemeinsamen Reise neu kennenlernen. Als sie geendet hatte und die Zuhörer applaudierten, lächelte ein älterer Herr am anderen Ende des Raums. Es war ihr Vater.
Auf einmal war da wieder das Gefühl, das ich nicht beschreiben kann und das mich doch seit 2009 in unregelmäßigen Abständen heimsucht. Ein sanftes Ziehen, das sich wie eine Decke auf meinen Brustkorb legte, ein Schmerz wie ein leiser, tiefer Ton. Ich nahm den langsamen Bus nach Hause. Ich wollte es nicht vermeiden. Ich fühlte mich seltsam wohl damit in dieser Nacht in Berlin, fast zehn Jahre nach seinem ersten Auftauchen.
Zu Hause angekommen öffnete ich eine kleine Holzkiste, die auf meinem Schreibtisch steht. Sie steht dort seit 2009, auf allen Schreibtischen, an allen Orten, an denen ich seitdem gelebt habe. Ich nahm 47 Fotos heraus.
Ich startete Spotify und drückte Play. Die ersten Akkorde des Mark-Knopfler-Albums tönten aus meinem Laptopboxen.
Ich begann, durch die Fotos zu blättern. Sie zeigen meinen Vater und mich. Beim Einpflanzen eines Apfelbaums in unserem Garten in Niederbayern, beim Radfahren, neben einem Gipfelkreuz in Österreich. Auf dem ältesten bin ich gerade geboren. Das letzte habe ich wenige Monate vor seinem Tod selbst von ihm gemacht.
Ich versuchte, die Fotos zu ordnen, und es gelang mir nicht. Ich versuchte, mir die Geschichten dazu zu erzählen, und fand doch nur diffuse Erinnerungen. Ich packte die Fotos zurück in die Kiste, vorsichtig, als könnte ihr Inhalt, wäre ich zu grob damit, verloren gehen. Ich hörte das Album zu Ende.
Dann stellte ich die Kiste zurück auf meinen Schreibtisch. Gleich neben den Höhenmesser, der wohl irgendwo läge, wäre alles normal gelaufen.